Der „Individuelle Realismus“ - ein Gegenbegriff für die bildende Kunst in der DDR?
Im wissenschaftlichen Diskurs sind präzise Terminologien unabdingbar zur Beschreibung, Erklärung und Unterscheidung. Dominiert ein einziger Begriff zur Deskription und Einordnung, so werden die Abgrenzung und der Vergleich von Gegenständen unmöglich. Darunter leidet vor allen auch die Untersuchung bildender Kunst in der DDR von 1049 bis 1989, insbesondere seit der Wiedervereinigung, denn sie wird fast ausnahmslos anhand des „Sozialistischen Realismus" beschrieben, erklärt und verstanden. Andere Kategorien, gar Gegenbegriffe fehlen. In der Auseinandersetzung mit dem Phänomen von Künstlern abseits des „Sozialistischen Realismus“ wird in der Forschung häufig von „nonkonformer Kunst", „inoffizieller Kunst“, „kritischer Kunst“ oder von „alternativer Kunstszene“ gesprochen. Allerdings finden diese Termini in erster Linie in allgemein beschreibender Absicht Verwendung. Sie dienen nicht als distinktive Begriffe in der Kunstgeschichte, um eine vom „Sozialistischen Realismus" zu unterscheidende Stilrichtung zu beschreiben.
Um seiner vorgeblichen Omnipräsenz in der DDR Rechnung zu tragen, haben sich nach 1989/90 die meisten großen und bekannten Ausstellungen zur Kunst in der DDR dem „Sozialistischen Realismus“ gewidmet, womit der Eindruck seiner Vorherrschaft zusätzlich verstärkt wurde:
Beispielsweise die Schau 1995 im Deutschen Historischen Museum in Berlin „Auftrag: Kunst 1949-1990. Bildende Künstler in der DDR zwischen Ästhetik und Politik“; die Ausstellung 1998 auf Burg Beeskow „Rahmenwechsel“; diejenigen in Weimar 1999 „Offiziell und Inoffiziell - Die Kunst der DDR“ und 2012 „Abschied von Ikarus“ (vgl. den Literaturbericht von Oliver Sukrow und Tobias Zervosen, 2015). Ausstellungen, die darüber hinaus nach anderen Richtungen und alternativen Formensprachen in der ostdeutschen Kunst suchten und diese präsentierten, waren nur in wenigen Fällen anzutreffen und von geringerer Bedeutung - z.B.: „Souveräne Wege. 1949 bis 1989. Sechs Künstler in der DDR“, präsentiert im Jahr 2000 in der Kunsthalle Darmstadt; „Kunst in der DDR. Eine Retrospektive“, gezeigt 2003 in der Nationalgalerie Berlin; oder „Kunst und Kalter Krieg. Deutsche Positionen 1945-89“ 2009 in Los Angeles, später in Nürnberg und Berlin zu sehen. Jüngst wurde in Schwerin die Schau „Außer Kontrolle! Farbige Grafik & Mail Art in der DDR“ präsentiert. Der vorliegende Beitrag versucht, differenzierende Perspektiven aufzuzeigen - und zwar sowohl aus politwissenschaftlicher als auch aus kunsthistorischer Sicht.
Fehlende Begriffe
Die DDR war eine Diktatur - ein System des vermeintlich real existierenden Sozialismus. Gleichwohl sie als stark ideologisiert, durchherrscht und im Ganzen als „totalitär“ zu begreifen ist (Gräßler, 2014), wäre es eine Fehleinschätzung anzunehmen, die SED-Diktatur habe die Sphäre der Kunst vollkommen fremdbestimmt bzw. die Kunst habe überall und dauerhaft unter der rigorosen Verbindlichkeit des „Sozialistischen Realismus" gestanden. Aufgrund dieser Fehlperzeption werden der DDR in der westdeutschen (Kunst)Geschichtsschreibung Ausprägungen autonomer Kunst zumeist a priori abgesprochen. So wurden für die 2006im Gropius-Bau in Berlin gezeigte Ausstellung „60 Jahre-60 Werke. Kunst aus der Bundesrepublik Deutschland. 1949-2009“ ausschließlich Werke von Künstlern aus dem Westen Deutschlands ausgewählt. Diese Entscheidung begründete der Projektorganisator Walter Smerling damals lakonisch mit den Worten: “Wirzeigen die Kunst, die unter Art .5 Abs.3 des Grundgesetzes möglich war, nämlich: freie Kunst. In der DDR war die Kunst nicht frei, also hat sie in der Ausstellung nichts zu suchen“ (2009,19). In der Wirklichkeit lässt sich die ostdeutsche Kunst nach 1945 nicht ausschließlich in die sozialistische - ideologiekonforme - Staats- respektive Auftragskunst einordnen. Generell ist die im Kalten Krieg popularisierte und nach 1990 weiterhin vertretene westliche These, Kunst könne nur in Freiheit entstehen bzw. Kunst sei in der Diktatur unmöglich, aufgrund ihrer Pauschalität und emotionalen Aufladung wissenschaftlich nicht haltbar (Tack, 2011, 74ff.). Einerseits wurde Kunst staatlich finanziert, gelenkt und getragen; sie sollte zur Legitimation, Visibilität und Weiterentwicklung der SED-Herrschaft beitragen. Andererseits vermochte es die Sphäre der Kunst, dem totalitären Macht- und Herrschaftsanspruch zumindest punktuell zu widerstehen.
Innerhalb derSED-Diktatur lässt sich dasSystem der Kunst erkenntnisstiftend im Sinne desTotalitarismus-konzepts des deutsch-amerika-nischen Politikwissenschaftlers Carl Joachim Friedrich als eine „Insel der Absonderung“ begreifen (Friedrich, 1965 [1956], 279ff„ 329ff.) - als ein teilautonomer, weniger durchherrschter Raum mit verminderten paternalistischen Zügen und kaum ideologischen Zwängen.
Bislang liefert der „Sozialistische Realismus“ das vorherrschende Deutungsmuster und Analyseraster für die bildende Kunst in der DDR. Unstrittig ist, dass die offizielle - vom SED-Regime initiierte und geförderte - Kunst im Dienst der sozialistischen Machthaber und ihrer marxistisch-leninistischen und antifaschistischen Ideologie stand. Allerdings beschritten zahlreiche Künstler abseits davon Pfade und verfolgten eigene Wege des Denkens und Verstehens. Ihre Werke gründeten nicht auf der sozialistischen Kunstdoktrin, sie sind anhand des „Sozialistischen Realismus“ weder zu erfahren noch zu verstehen, sondern erscheinen vielmehr sui generis. Das Wirken dieser ostdeutschen Künstler ist bislang unterbelichtet und nicht klassifiziert; die Kunstgeschichte erweist sich dafür nach wie vor als begriffslos.
Sozialistischer Realismus
Begriffe charakterisieren, ordnen ein, eröffnen Räume für ein besseres Verständnis; sie bewegen sich in einem Spannungsfeld von Differenzierung, Verharmlosung und Diffamierung. Um zu zeigen, dass sich der „Sozialistische Realismus“ nicht eignet, das künstlerische leben in der DDR in seiner Vielfalt abzubilden, muss man sich der Herkunft und Verwendung des Begriffs vergewissern. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden etliche, die Besatzungszonen übergreifende Ausstellungen organisiert - z.B. die „Deutschen Kunstausstelllungen“ 1946 und 1949 in Dresden -, um Gegensätze zu überbrücken, Koexistenz anzustreben und durch einen regen Austausch wieder am internationalen Kunstgeschehen teilzunehmen. Allerdings verlangte der Beginn des Kalten Krieges nicht nur nach politisch-territorialen, sondern auch nach ästhetisch sichtbaren Grenzen: dort die eher gegenständliche Kunst des Ostens, hier der sich zunehmend der Abstraktion und nordamerikanischen Vorbildern öffnende Westen. Durch aggressive Polarisierung wurde für Jahrzehnte ein scharfer Ost-West-Gegensatz auch im Künstlerischen geschaffen und zementiert. Der deutsch-deutsche Bilderstreit prägte nicht erst das wiedervereinte Deutschland, sondern schon die gesamte Nachkriegszeit (Beaucamp, 2009).
In der DDR kappten die SED-Machthaber die deutsche kulturelle Traditionsfolge mit der Übernahme des „Sozialistischen Realismus“. Offiziell postulierte das V. Plenum des Zentralkomitees der SED 1051 den „Sozialistischen Realismus“ als bestimmende Doktrin in Kunst und Literatur. Sämtliches Kunstschaffen, das dem widersprach, wurde von da an als „Formalismus“ - als Kunst des „Klassenfeindes“, des Kapitalismus und des Imperialismus - verurteilt und verfolgt (Feist, 1993, 55ff.). Der Begriff des „Sozialistischen Realismus“ (Pracht, 1975) war ideologischen Ursprungs bzw. politisch vorbestimmt: Die Kommunisten hatten ihn 1932 in der Sowjetunion begründet und definiert, um das Kunstschaffen zu monopolisieren und anzuleiten.
Er galt als programmatische Vorgabe verbindlich für alle Künstler, um das marxistisch-leninistische Welt- und Menschenbild zu illustrieren und zu propagieren, und sollte zur entscheidenden und einzigen Kunstrichtung in allen sozialistischen Staaten werden (Christ, 1999, 23ff.).
Der „Sozialistische Realismus“ war am Anfang ausschließlich präskriptiv definiert, erst später wurde er deskriptiv verwendet. Er gab Antworten darauf, wo und auf welche Art und Weise sich Künstler am Aufbau der neuen Gesellschaftsordnung zu beteiligen hatten. Vorbestimmte und ausgesuchte Bildmotive und Darstellungspraktiken lieferten verbindliche Kriterien. Als künstlerische Merkmale waren zwingend einzuhalten:
Parteilichkeit, Volksverbundenheit, Wahrheitsgehalt und Ideologie (Olbrich/Strauß, 2004, 770ff.).
Der Sozialistische Realismus sollte als Theorie die Künstler geistig präformieren sowie praktisch anleifen. Dennoch stellten sich die vier Kriterien als dehnbar und diskussionswürdig heraus.
Dieser Interpretationsspielraum verlangte aus Sicht der Herrschenden nach Zensur, die in den Händen der SED-Funktionäre lag. Selbst Künstler, die der Überzeugung waren, diese Vorgaben vollumfänglich zu bedienen, konnten sich der Billigung und des Wohlwollens der Machthaber nicht sicher sein. Neben der Bezeichnung für ein künstlerisches Konzept entwickelte sich der „Sozialistische Realismus“ später- als zweite Bedeutungsdimension - zum Stilbegriff bzw. zum Etikett einer neuen Kunstrichtung. Gerade nach 1989/90 und vor allem im Westen zum omnipräsenten Epochenbegriff avanciert, verdeckte er schließlich die Tatsache, dass innerhalb der DDR-Kunstszene viele unterschiedliche gestalterische Prinzipien und Ideen angewandt wurden, die darunter nicht zu fassen waren. Zwar forcierte der totalitäre Macht- und Herrschaftsanspruch der SED konsequent den Aufbau einer kommunistischen Gesellschaft, der in allen Bereichen des Lebens zu verankern war, womit die Möglichkeiten persönlicher Entfaltung radikal negiert wurden. Aber gleichzeitig entstand in der Sphäre der Kunst eine Sehnsucht nach dem Individuellen und Autonomen.
Post-Wendezeit
Aus methodologischer Sicht ist bemerkenswert, dass der von den SED-Machthabern forcierte Begriff des „Sozialistischen Realismus“ nach 1990 weiter unreflektiert Anwendung fand, um die Wege und Formen der Kunst in der DDR zu charakterisieren. Statt neuer Kategorienbildung wurde dieser historisch wie ideologisch prädisponierte Begriff unverändert übernommen. In der logischen Fortsetzung müsste - absurderweise - heute ebenso die Kategorie des „Formalismus“ als Etikett für Kunst jenseits des „Sozialistischen Realismus“ Verwendung finden. Im SED-Regime diente der „Formalismus" zur Stigmatisierung und Entwertung sämtlicher Kunst, die der sozialistischen Kunstdoktrin widersprach bzw. den Herrschenden missfiel. Natürlich lassen sich viele Arbeiten als politisch bestimmte Auftragskunst identifizieren und unter der Kategorie des „Sozialistischen Realismus“ klassifizieren. Allerdings machen der Begriff und seine Monopolstellung blind für Kunst und Künstler außerhalb der diktatorisch beherrschten Räume. Er fixiert eine einseitige Perspektive, die für alternative Werkgestaltungen und Formen weder offen noch empfänglich ist. Wer die Kategorie unkritisch reproduziert, unterstellt sich nolens volens der intendierten Sichtweise der SED-Machthaber, beraubt sich so leichtfertig anderer Perspektiven und wird damit gegenüber abweichenden Betrachtungsweisen immunisiert. Das Jahrzehnte währende terminologische Monopol des „Sozialistischen Realismus“ und sein ungebrochener Fortbestand nach 1990 bewirkten die Verfestigung einer verzerrenden Einseitigkeit.
GEGENBEGRIFF: Individueller Realismus
Der Begriff „Sozialistischer Realismus“ jedoch existiert munter fort: in analytischer und in klassifizierter Anwendung. Soll er mit all seinen Schwächen weiter gelten, braucht es zumindest einen zweiten Begriff für jene Kunst, die weitgehend autonom existierte, nicht ideologisch infiltriert war und abseits der politisch-staatlichen Sphären agierte. Zwei Begriffe erlauben wenigstens, eine Dichotomie an die Stelle einer Monotonie zu setzen, und ermöglichen so die Unterscheidung zwischen staatlich geförderter und politisch gewollter Auftragskunst auf der einen Seite und staatlich sanktionierter und politisch verfolgter Kunst auf der anderen Seite,
Die politisch unerwünschte Kunst, die sich facettenreich entwickelte und sich weitgehend ideologiefrei und eigenständig formte, soll aufgrund dieses Charakters als „Individueller Realismus“ bezeichnet werden. Durch das hinzutreten dieser Kategorie zum „Sozialistischen Realismus" lässt sich die ostdeutsche Kunst zwischen 1945 und 1990 in ihrer Gesamtheit treffender beschreiben, besser erklären und systematisieren als bisher. Eine zutreffende Lokalisierung und Einordnung von Künstlern, die ohne eine politisch-ideologische und regimekonforme Haltung abstrakt, konkret, konstruktiv, informell oder gegenständlich arbeiteten, wurde bislang vom Schlagwort des „Sozialistischen Realismus“ verhindert. Er verurteilte sie gar zur weitgehenden Unsichtbarkeit, denn keinen klassifizierenden Begriff für diese Künstlerund ihre Werkezu haben, bedeutete faktisch deren Negation respektive deren Nicht-Existenz.
Warum dieser Gegenbegriff „Individueller Realismus“? Das Attribut „individuell“ stellt sich der hetero-nomen Aufladung der Kunst der DDR entgegen und kehrt den propagierten Weg der sozialistischen Ideologie um: vom „Wir“ zurück zum „Ich“. Generell lässt sich seit 1990 in etlichen Texten zur Beschreibung und Charakterisierung der Kunst in der DDR der Bezug zum Attribut „individuell“ entdecken.
So schreibt Jörg Makarinus: „Jeder von ihnen bestimmte sein künstlerisches Tun individuell, hat auf seine Art und unter den ihm real werdenden Umständen gelebt, sah formalistische Kritiken an sein Werk gerichtet, fand zu einer ganz persönlich formulierten Distanz zum Staat oder traf eine Übereinkunft mit ihm“ (1997, 59). Corinna Halbrehder konstatiert: „Der sozialistische Realismus galt als einzig wahre Stilrichtung und es bedurfte keiner weiteren Betonung. Zudem zeigte sich seit der VI. Kunstausstellung, dass die Künstler sich mit immer individuelleren stilistischen Mitteln auszudrücken versuchten, ohne jedoch vom Realismus abzuweichen. Gleichzeitig war der Realismus keine wirksame Abgrenzung mehr zur westlichen Kunst, da auch dort der Realismus wieder verstärkt als Ausdrucksmittel angewandt wurde“ (1995, 186). Ähnlich klingt es bei Fritz Jacobi: „Die Formen dieser 'Wirklichkeitsverarbeitung' sind sehr verschieden. Letztlich steht die Individualität der einzelnen Künstlerpersönlichkeiten für die ihr eigene Stilprägung“ (1995,8). Ebenso bemerkt Friederike Eschen: „In einem dynamischen Prozess, in dem die Idee einer selbstbestimmten Kunst als Ausdruck von Künstlerindividualität der parteilichen Kunstkonzeption als Träger sozialistischer Utopien gegenübertrat, entwickelte sich auch in der DDR ein vielfältiges Kunstgeschehen“ (2014,328).
Hingegen rekurriert das Festhalten am Topos „Realismus“ auf den räumlich-zeitlichen Kontext des SED-Regimes und auf die prekäre wie grundsätzlich politisierte Stellung der Kunst im totalitären System. Im Begriff des „Individuellen Realismus“ scheint eine genuine Widersprüchlichkeit auf: einerseits seine Nähe zum „Sozialistischen Realismus“, die auf ein unkündbares Verhältnis der Künstler zu ihrem Leben in der SED-Diktatur verweist; andererseits sein Hinweis auf „Individualität“, welche die partielle Befreiung der Kunst vom Primat der politisch-ideologischen Sphäre zum Ausdruck bringt. Derlei ambivalente Züge anzuerkennen und hervorzuheben, scheint für das Verständnis und die Analyse der ostdeutschen Kunst zwischen 1945 und 1990 essentiell.
In diesem Sinne kann der „Individuelle Realismus“ zudem zu einer Erweiterung der Sichtweise auf die Künstler in der DDR beitragen, denn die allzu schemenhafte und schematische Einordnung zwischen „systemnahen privilegierten Staatskünstlern“ und „staatsfernen oppositionellen Nonkonformen“ scheint korrekturbedürftig. Das Gros der Künstler bewegte sich ebenso eigenwillig wie eigengesetzlich und oszillierend dazwischen, bisweilen Widersprüchlichkeiten bewusst aushaltend. Die Künstlerbiographien lassen sich nicht auf Namen, Stile oder Richtungen reduzieren, auch enden die Lebensläufe nicht mit den Jahren 1989/90.
Quelle: Dr. Florian Grässler; Dr. Sabine Tauscher, M.A.
KUNST CHRONIK 69. Jahrgang/Heft 4/ April 2016 Herausgegeben vom Zentralinstitut für Kunstgeschichte